Interview Lesezeit 3 Min.

„Man braucht nicht nur Mut, sondern Übermut“

Joachim Schoss war Unternehmensberater, Mitgründer von Immobilienscout24 und Gründer-CEO von Scout24, bevor er 2002 nur knapp einen Verkehrsunfall überlebte. Daraufhin gründete er die Stiftung MyHandicap, die ein Internetportal für Behinderte betreibt. Im Interview erklärt der 58-Jährige, warum sich so wenige Menschen mit Behinderung selbstständig machen.

Kernaussagen in Kürze:
  • „Menschen mit Behinderung sind trotz höherer Problemlösungskompetenz nicht unbedingt begabtere Unternehmer als Menschen ohne Behinderung“, sagt Joachim Schoss, Mitgründer von Immobilienscout 24 und Gründer der Stiftung MyHandicap.
  • Für Schoss gehört zum Schritt in die Selbstständigkeit auch Übermut, doch die Persönlichkeitsentwicklung und -veränderung durch eine Behinderung fördere eher die Sicherheitsbedürfnisse.
  • Wer als Mensch mit Behinderung das Talent, den Willen und die Persönlichkeitsmerkmale zum Unternehmer hat, den sollte man unterstützen, sagt Schoss – primär jedoch in Ländern, in denen Betroffene wenig oder gar keine staatliche Hilfe erhalten.
Zur detaillierten Fassung

Menschen mit Behinderung erwerben aufgrund ihrer Einschränkungen oft besondere Fähigkeiten. Sind sie dadurch automatisch begabtere Unternehmer?

Menschen mit Behinderung haben eine höhere Problemlösungskompetenz, weil sie im Alltag mit mehr Problemen konfrontiert sind, doch ich glaube nicht unbedingt, dass sie deshalb auch die begabteren Unternehmer sind.

Menschen mit Behinderung haben eine höhere Problemlösungskompetenz, doch ich glaube nicht unbedingt, dass sie deshalb auch die begabteren Unternehmer sind.

Die Problemlösungskompetenz wurde schon nachgewiesen: Teams, in denen Menschen mit Behinderung arbeiten, reichen häufiger betriebliche Verbesserungsvorschläge ein als andere Teams. Erfolgreiches Unternehmertum erfordert neben Kreativität viele andere Talente – und die bringen naturgemäß nicht alle Menschen im gleichen Maße mit.

In Deutschland machen sich vergleichsweise wenige Menschen mit Behinderung selbstständig. Ist das ein deutsches Phänomen?

In Ländern wie Kenia oder Tibet, in denen die staatliche Unterstützung für Menschen mit Behinderung begrenzt ist, treibt sie die schiere Not in die Selbstständigkeit. Wer keine Anstellung findet und keine staatliche Unterstützung erhält, dem bleibt oft gar nichts anderes übrig, wenn er nicht verhungern will.

Wann ist der ideale Zeitpunkt, um sich selbstständig zu machen?

Das ist zum Glück in Deutschland nicht der Fall. Allerdings führt bei uns schulische Exklusion direkt in die berufliche Exklusion. Die Chancen eines Kindes, das die Förderschule besuchen musste, sind auf dem ersten Arbeitsmarkt nachweisbar geringer. Ein guter Zeitpunkt für den Schritt in die Selbstständigkeit ist nach einer entsprechenden Ausbildung und vor der Familiengründung. Wenn sich also nach solch einer Ausbildung die Behinderung ereignet und der- oder diejenige noch nicht zu viele Verpflichtungen hat und überdies den nötigen Mut, vielleicht sogar Übermut mitbringt, dann könnte es mit der Selbstständigkeit klappen.

Joachim Schoss ist Unternehmer und Gründer der Stiftung MyHandycap; Foto: privat Wieso Übermut?

Wenn sich alle Unternehmer im Moment der Gründung bewusst gewesen wären, worauf sie sich einlassen, hätte ein großer Teil das Abenteuer wahrscheinlich nicht gewagt. Meine Erfahrung ist, dass Behinderung eher demütig macht. Die Persönlichkeitsentwicklung und -veränderung durch eine Behinderung fördert nicht unbedingt den Übermut, sondern eher die Sicherheitsbedürfnisse.

Sie waren 39, als Sie einen Arm, ein Bein und den Großteil Ihrer Nierenleistung verloren. Hätten Sie nach Ihrem Unfall den Schritt in die Selbstständigkeit gewagt, wenn Sie nicht schon vorher Unternehmer gewesen wären?

Wenn ich vorher Angestellter gewesen wäre, sicherlich nicht. Ich hatte damals drei kleine Kinder, da hätte ich alles getan, um meinen Lebensunterhalt und den der Familie zu sichern, das wäre in der Anstellung sicherlich einfacher gewesen.

Sollten Menschen mit Behinderung stärker gefördert werden, um als Unternehmer starten zu können?

Das ist ein zweischneidiges Schwert. Es hat nicht jeder die notwendigen Voraussetzungen zum erfolgreichen Unternehmer. Für manche ist es das Beste, was sie sich vorstellen können, für viele kann das Unternehmertum dagegen zur Qual werden, mit permanentem Stress und einer Überforderung, die bis zum Selbstmord führen kann. Wer als Mensch mit Behinderung das Talent, den Willen und die Persönlichkeitsmerkmale zum Unternehmer hat, den sollte man unterstützen – vor allem in Ländern, in denen Betroffene wenig oder gar keine staatliche Hilfe erhalten.

Wie viele Menschen mit Behinderung haben Sie mithilfe Ihrer Stiftung auf dem Weg in die Selbstständigkeit unterstützt?

Darauf haben wir uns bisher nicht fokussiert. In Deutschland sehen wir größere Chancen darin, Menschen mit Behinderung aus der Arbeitslosigkeit in eine Anstellung zu bringen als in eine selbstständige oder unternehmerische Tätigkeit. In diesem Bereich haben wir schon Tausenden von Menschen wieder in Lohn und Brot geholfen mit Aktivitäten wie „Jobs für Behinderte, Behinderte für Jobs“. Unsere Hilfen zur Selbsthilfe erreichen jedes Jahr mehrere Millionen Menschen über unsere Website.

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