Schuldenbremse Lesezeit 5 Min.

Interview: „Die öffentliche Investitionslücke ist dramatisch“

Drei Reformvorschläge zur Schuldenbremse bringt das IW in die öffentliche Debatte ein. Direktor Michael Hüther und Tobias Hentze, Leiter des Clusters Staat, Steuern und Soziale Sicherung, erklären im iwd-Interview, warum es neue Schuldenregeln braucht, welche Aufgaben jetzt zentral für Deutschland sind und welchen Einfluss die EU-Wahl auf das deutsche Vorgehen hat.

Kernaussagen in Kürze:
  • Die Schuldenbremse muss dringend reformiert werden, sagen IW-Direktor Michael Hüther und IW-Steuerexperte Tobias Hentze.
  • Seit zwei Jahrzehnten sei die öffentliche Infrastruktur unterfinanziert, das lasse sich nicht über den normalen Haushalt beheben, meint Hüther.
  • Außerdem müsse Deutschland in der EU wirtschaftliche Impulse geben. Das gelinge nur mit einer angepassten Fiskalpolitik.
Zur detaillierten Fassung

Herr Hüther, Herr Hentze, das IW hat gleich drei Vorschläge zur Reform der Schuldenbremse vorgelegt. Hätte nicht einer gereicht?

Hüther: Das könnte man denken. Aber es ist nicht so, dass es die eine eindeutige Lösung gibt. Es lässt sich für verschiedene Ansätze argumentieren, die alle positive Effekte hätten. Unbestritten bleibt: Es gibt Reformbedarf.

Ein Leitgedanke der Reformoptionen ist es, mehr Investitionen zu ermöglichen. Wären diese nicht auch unter der jetzigen Schuldenbremse machbar?

Hüther: Nur wenn man der Vorstellung anhängt, dass die staatlichen Ausgaben in kurzer Frist neugestaltet werden könnten. Frei nach dem Motto: Da muss der Staat nur mal schnell eine große Sozialreform machen. Natürlich kann man aus vielen Gründen sagen, dass man beim Bürgergeld die Arbeitsanreize oder bei der Rente den Leistungsgedanken verstärken muss. Trotzdem sind die meisten Mittel des Bundeshaushalts langfristig verplant. Deswegen bewegen wir uns in der Diskussion an der Grenze zwischen ökonomisch sinnvollen und politisch machbaren Entscheidungen.

Hentze: Sicherlich kann der Bund von heute auf morgen eine Straße mehr bauen oder eine Brücke mehr sanieren. Aber wir müssen uns klarmachen, vor welchen Aufgaben wir jetzt stehen, Stichwort Klimaneutralität 2045. Das hat eine andere Dimension und ist schwierig im Rahmen der heutigen Schuldenbremse abzubilden.

Wir sind für klare Fiskalregeln. Die Frage ist, wie man sie gestaltet.

Was sagen Sie Kritikern, die finden, dass nur die strikte Schuldenbremse die Politik davon abhalten kann, die Staatsverschuldung immer weiter nach oben zu schrauben?

Hentze: Wir haben im vergangenen Jahr ermittelt, was für Deutschland an Kreditaufnahmen möglich wäre, ohne dass die Schuldenstandsquote steigt. Heraus kam ein Wert von 1,5 Prozent des Bruttoinlandsprodukts statt der derzeit festgeschriebenen 0,35 Prozent.

Um das klarzustellen: Wir sind für klare Fiskalregeln. Die Frage ist, wie man sie gestaltet. Warum die vor 15 Jahren festgelegte Neuverschuldungsgrenze von 0,35 Prozent für den Bund und 0 Prozent für die Länder auf alle Zeit passend sein soll, konnte mir bisher niemand erklären.

Hüther: Es geht nicht um die Schuldenbremse an sich, sondern um die angemessene Schuldenregel aus heutiger Sicht. Wir kennen aus den Erfahrungen der vergangenen Jahre die Schwächen der Schuldenbremse in ihrer jetzigen Form. Sie ist eine Steuersenkungsbremse, sie ist faktisch eine Investitionsbremse und sie passt so nicht mehr in die Zeit, denn jetzt müssen wir klimaneutral werden und brauchen dazu erhebliche staatliche Investitionen.

Warum glauben Sie, dass zumindest einer Ihrer Reformvorschläge eine Chance hat, realisiert zu werden?

Hüther: Der Problemdruck ist sehr hoch, die öffentliche Investitionslücke ist dramatisch. Wir haben ein großes Vermächtnisproblem – soll heißen, seit zwei Jahrzehnten ist die öffentliche Infrastruktur unterfinanziert. Das bekommen wir nicht adäquat in einem Haushalt abgebildet, der sich in der jährlichen Logik von Gestaltung und Verwendung bewegt.

Eigentlich weiß nicht nur die Regierung, sondern auch die größte Oppositionspartei, dass sie agieren muss. Sie tut das aus wahltaktischen Gründen aber nicht. Mit unseren Vorschlägen wollen wir die öffentliche Diskussion anregen.

Ein Grund, warum die Politik Investitionen so leicht vernachlässigt, dürfte das kurzfristige Denken in Wahlperioden sein. Wie könnten Politiker dazu bewogen werden, längerfristige Ziele zu verfolgen?

Tobias Hentze ist Leiter des Clusters Staat, Steuern und Soziale Sicherung, Michael Hüther ist Direktor des Instituts der deutschen Wirtschaft; Fotos: IW Hüther: Sie tun es an manchen Stellen schon. Das Klimagesetz ist zum Beispiel langfristig angelegt. Die Schuldenbremse ist, wenn man so will, von der Politik wie eine Art Selbstbindung ebenfalls langfristig definiert worden.

Aber noch mal: Wir wollen die Schuldenregeln nicht abschaffen, sondern dafür werben, die historisch, weil klimapolitisch nötige Flexibilität möglich zu machen.

Hentze: Um zu verhindern, dass zusätzliches Geld anderweitig ausgegeben wird, könnte man es an die Bedingung knüpfen, dass es sich um Nettoinvestitionen handeln muss. Denn sie sind langfristig ausgerichtet.

Der Staat könnte, statt selbst zu investieren, auch Steuern senken, um es für die Privatwirtschaft attraktiver zu machen, in Deutschland zu investieren. Fest steht nämlich: Ohne die Unternehmen schaffen wir die Transformation nicht. Deswegen haben wir diesen Punkt in unserem Papier mit aufgenommen. Es wäre auch denkbar, unsere drei Ansätze zu kombinieren, um den verschiedenen Herausforderungen möglichst gerecht zu werden.

Was muss über die Reform der Schuldenbremse hinaus politisch noch verändert werden, damit der Standort Deutschland modernisiert und mit Blick auf die Klimaneutralität umgebaut werden kann?

Hüther: Wir müssen die eigenen Ziele ernst nehmen. Die neuen Spielräume durch die Reform müssen zum Investieren genutzt werden – das ist der erste große Bereich. Der zweite: Wir brauchen eine wettbewerbsfähige Steuerbelastung, das heißt eine geringere Unternehmensbesteuerung, und eine Tarifreform der Einkommensteuer muss man angehen. Das ließe sich mit den Spielräumen wieder nach- statt vorfinanzieren. Der dritte große Aspekt ist der Abbau bürokratischer Hürden und Lasten.

Wir müssen uns nicht zuletzt durch die Reform der Schuldenbremse Spielräume schaffen, damit wir in Europa einen ökonomischen Impuls setzen können.

Die Klimawende und die Stärkung der Wettbewerbsfähigkeit sind nicht nur für Deutschland, sondern für ganz Europa Herausforderungen. Wie wird sich aus Ihrer Sicht das Ergebnis der Europawahl auf die Chancen auswirken, diese Aufgaben in der EU gemeinsam zu meistern?

Hüther: Es hat sich schon in den vergangenen Monaten angedeutet, dass der Green Deal nicht mehr erste Priorität genießt – auch weil vieles dort schon gesetzlich verankert wurde. Das Thema Wettbewerbsfähigkeit wird nach vorn rücken. Da muss auch die Bundesrepublik ihren Beitrag leisten. Wir müssen uns nicht zuletzt durch die Reform der Schuldenbremse Spielräume schaffen, damit wir in Europa einen ökonomischen Impuls setzen können.

Hentze: Vereinfacht gesagt: Schuldenbremse und EU-Fiskalregeln sollten zueinanderpassen.

Sie klingen nicht so, als ob Sie fürchten, dass sich die EU aufgrund des Rechtsrucks bei den Wahlen nur noch in langwierigen Diskussionen ergeht.

Hüther: Die Rechtsparteien, die in Brüssel Einfluss haben – etwa aus Italien und Frankreich –, haben sich spürbar in die Mitte bewegt. Das wird in der EU als Kooperationsbereitschaft wahrgenommen.

Mehr Sorgen mache ich mir um Deutschland, wenn ich die geteilte Wahlkarte sehe – Westdeutschland schwarz, Ostdeutschland blau. Das hat aber wieder mit unserem Thema zu tun. Ich glaube nicht, dass es um die Sozialpolitik geht, sondern um einen wirksamen Staat. Die Menschen wollen nicht bevormundet werden, doch sie wollen sehen, dass die Dinge funktionieren. Man muss ihnen aber auch sagen: Mit dieser Schuldenbremse wird das schwierig.

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