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Interview: „Die Politik sendet schizophrene Signale zum Renteneintritt“

Unternehmen können viel dafür tun, um ältere Mitarbeiter möglichst lange im Betrieb zu halten. Die politischen Rahmenbedingungen ermöglichen jedoch zu vielen Beschäftigten einen vorzeitigen Renteneintritt, sagt Oliver Stettes, Leiter des Clusters Arbeitswelt und Tarifpolitik im IW.

Kernaussagen in Kürze:
  • „Unternehmen, die ihre Mitarbeiter fördern und dafür sorgen, dass sie zufrieden im Job sind, stärken so auch die Bereitschaft, dass diese Personen in dieser Tätigkeit bis zum gesetzlichen Renteneintrittsalter und darüber hinaus bleiben", sagt IW-Arbeitsmarktexperte Oliver Stettes.
  • Doch auch die Politik könne einiges dazu beitragen, mehr Ältere für eine Beschäftigung über das Rentenalter hinaus zu gewinnen – indem zum Beispiel das Vorbeschäftigungsverbot für sie aufgehoben würde.
  • Allerdings wären die gesendeten Signale widersprüchlich: „Einerseits hat die Politik erkannt, dass man Menschen motivieren muss, länger zu arbeiten. Andererseits traut man sich nicht, das Renteneintrittsalter zu erhöhen sowie insbesondere den vorzeitigen Renteneintritt ohne Abschläge abzuschaffen."
Zur detaillierten Fassung

Rund die Hälfte der Neurentner scheidet vorzeitig aus dem Arbeitsleben aus, 20 Prozent nehmen dafür Abschläge bei der Rente in Kauf. Sind die Renten zu hoch?

Die Entscheidung für oder gegen einen Ruhestandseintritt zu einem bestimmten Zeitpunkt hängt von vielen Einflussfaktoren ab: von der Höhe der eigenen erreichten Rente, weiteren potenziellen Einkommen wie Miet-, Zins- oder Kapitalerträgen, dem, was der Partner oder die Partnerin macht und natürlich vom individuellen Gesundheitszustand.

Wir müssen es hierzulande hinbekommen, dass mehr Menschen wenigstens bis zum gesetzlichen Renteneintrittsalter arbeiten, idealerweise auch noch darüber hinaus.

Gibt es noch andere Gründe für die vielen Frührentner? Hat Arbeit an sich hierzulande zu wenig Wert?

Es wird zumindest der Eindruck erweckt, dass die Rente das Paradies ist und dann das sorgenfreie Leben beginnt, wo man über seine Zeit autonom verfügen kann. Dieses Bild geht von der Vorstellung aus, dass Arbeit ein Leid ist, auf das im Anschluss ein Anspruch auf einen wohlverdienten Ruhestand folgt. Das ist insofern fragwürdig, als nur in den wenigsten Fällen heute noch körperlich so beanspruchende Bedingungen vorherrschen, dass man von einer echten Mühsal des Arbeitslebens sprechen kann.

Oliver Stettes ist Leiter des Clusters Arbeitswelt und Tarifpolitik im Institut der deutschen Wirtschaft; Foto: IW Medien Weiß man, ob Menschen, die früher aus dem Arbeitsleben aussteigen, langfristig glücklich sind mit dieser Entscheidung?

Wer im Alter noch erwerbstätig ist, ist zumindest nicht unzufriedener. Und wir wissen, dass eine größere Zufriedenheit während des Berufslebens eine längere Beschäftigung sowie eine Beschäftigung über das Rentenalter hinaus begünstigt.

Was können die Unternehmen dazu beitragen, dass ihre Mitarbeiter länger bleiben?

Die Unternehmen müssen sich bewusst werden, dass ihr personalpolitisches Handeln gegenüber den Mitarbeitern deren Einstellung zum Arbeitsverhältnis prägt. Wenn man Beschäftigte fördert, ihnen verantwortungsvolle Aufgaben gibt, sie begleitet und unterstützt und ihnen signalisiert, dass sie Wertvolles für das Unternehmen tun, erhöht dies die Wahrscheinlichkeit, dass sich jemand engagiert und zufrieden im Job ist. Das stärkt dann auch die Bereitschaft, in dieser Tätigkeit bis zum gesetzlichen Renteneintrittsalter und darüber hinaus zu bleiben. Und es erhöht auch die Bereitschaft, wenn im Betrieb Not am Mann ist, nach dem Renteneintritt wieder zurückzukommen.

Wie groß ist denn das Engagement der Unternehmen, ältere Mitarbeiter zu fördern?

Das hängt vom Erwerbshorizont ab. Wenn ein Unternehmen davon ausgehen muss, dass ein älterer Mitarbeiter möglicherweise mit 63 Jahren aus eigenen Stücken in Rente gehen möchte, dann beeinflusst das die Frage, ob für diese Person noch eine kostenintensive Weiterbildung sinnvoll ist.

Permanenter Austausch zwischen den Unternehmen und ihren Mitarbeitern ist extrem wichtig.

Deshalb ist es für Unternehmen extrem wichtig, mit Mitarbeitern über ihre berufliche Zukunft im Gespräch zu sein – und zwar nicht erst, wenn sie 60 sind, sondern von Anfang an und am besten permanent.

Muss auch die Politik andere Rahmenbedingungen setzen?

Ja, denn Altersteilzeit oder andere Formen des vorzeitigen Ruhestands mögen individuell eine optimale Lösung sein, wenn Beschäftigte dies wünschen und/oder das Unternehmen wirtschaftliche Schwierigkeiten hat, aber gesamtwirtschaftlich funktioniert das nicht mehr angesichts des demografischen Wandels. Wir beobachten also individuell rationales Verhalten, das uns in eine kollektive Irrationalität führt. Und es ist eigentlich Aufgabe der Politik, diesem Dilemma durch die entsprechenden Rahmenbedingungen entgegenzuwirken.

Auch das Zurückholen von ehemaligen Mitarbeitern, die in Rente sind, scheitert häufig an rechtlichen Hürden …

Ja, denn hier greift momentan das sogenannte Vorbeschäftigungsverbot – ein Unternehmen kann keinen befristeten Arbeitsvertrag mehr mit einer Person abschließen, die früher einmal im Betrieb beschäftigt war und das Haus bereits verlassen hat. Das soll jetzt mit der Wachstumsinitiative der Bundesregierung angegangen werden.

Dann dürfte die Zahl der arbeitenden Rentner also steigen?

Das ist zu hoffen, aber es werden schizophrene Signale gesendet: Einerseits hat die Politik erkannt, dass man Menschen motivieren muss, länger zu arbeiten. Andererseits traut man sich nicht, das Renteneintrittsalter zu erhöhen sowie insbesondere den vorzeitigen Renteneintritt ohne Abschläge abzuschaffen und/oder jenen mit Abschlägen unattraktiver zu machen. Vielmehr heißt es weiterhin, es muss auch mal genug sein – und dieser Zeitpunkt darf auch vor der Regelaltersgrenze liegen.

Die Schweden gehen erst mit 68 Jahren in Rente. Arbeiten dort tatsächlich mehr Menschen bis zur Regelaltersgrenze als in Deutschland?

Die Rentensysteme sind international sehr unterschiedlich, auch das Ausmaß der Selbstständigkeit. Das alles hat einen Einfluss auf die Erwerbstätigkeit der 65-Jährigen und Älteren. Letztlich müssen wir es hierzulande hinbekommen, dass mehr Menschen wenigstens bis zum gesetzlichen Renteneintrittsalter arbeiten, idealerweise auch noch darüber hinaus. Es scheitert ja nicht an den finanziellen Anreizen: Wer nach dem Überschreiten des Renteneintrittsalters ein Jahr länger arbeitet, erhält einen 6-prozentigen Zuschlag auf die Rente, das ist höchst lukrativ.

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