INSM-Bildungsmonitor Lesezeit 5 Min.

Interview: „Es muss viel mehr für den Erwerb der deutschen Sprache getan werden“

Der INSM-Bildungsmonitor 2024 beschäftigt sich ausführlich mit dem Thema Integration. Wie sich die Potenziale der Zuwanderung innerhalb des Bildungssystems erschließen lassen und warum Deutschland dabei vor besonderen Herausforderungen steht, erklären die Autoren des Bildungsmonitors, Christina Anger und Axel Plünnecke.

Kernaussagen in Kürze:
  • Der INSM-Bildungsmonitor 2024 beschäftigt sich ausführlich mit dem Thema Integration, denn laut Studienautorin Christina Anger muss Kindern, die schlecht Deutsch sprechen, noch mehr geholfen werden.
  • „Wer Deutsch beherrscht, kann dem Unterricht folgen und auch leichter in den Arbeitsmarkt einsteigen. Es muss also viel mehr für den Spracherwerb getan werden“, sagt Anger.
  • Studienautor Axel Plünnecke rät deshalb, das Startchancenprogramm, das zusätzliche Mittel von 2 Milliarden Euro pro Jahr für 10 Prozent der Schulen mit einem ungünstigen Sozialindex vorsieht, auf 40 Prozent der Schulen auszudehnen.
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Sachsen hat beim jüngsten INSM-Bildungsmonitor zum wiederholten Mal als Sieger abgeschnitten. Die gute Schulqualität und die Tatsache, dass in Sachsen Bildungsarmut besonders gut vermieden wird, sind der dortigen Bevölkerung – siehe die jüngsten Wahlergebnisse – offenbar nicht sonderlich bewusst, oder?

Plünnecke: Sachsen hat zwar die höchste Punktzahl erreicht, doch auch hier haben sich die Leistungen der Schüler in den Vergleichsarbeiten in Mathematik, Naturwissenschaften und Lesen in den vergangenen zehn Jahren verschlechtert – Sachsen hat lediglich den Vorsprung vor den anderen Bundesländern gehalten. Dazu gibt es weitere Probleme: An den Schulen in Ostdeutschland gehen viele Lehrer in Rente und es kommen zu wenig Lehrkräfte nach, es gibt also eine größer werdende Lehrkräfteknappheit. Wir messen die Altersstruktur der Lehrkräfte und hier kommt Sachsen nur auf Platz 13. Lehrkräftemangel wiederum kann zu Unterrichtsausfällen führen.

Der Anteil der Kinder mit Migrationshintergrund, die eine Kita besuchen, ist in den vergangenen Jahren zurückgegangen. Das ist nicht nur auf sprachliche oder organisatorische Probleme der Eltern zurückzuführen, sondern hat auch damit zu tun, dass wir immer noch zu wenige Kitaplätze haben.

Hinzu kommt, dass in ländlichen Regionen Sachsens in der Vergangenheit wegen der schrumpfenden Schülerzahlen Schulen zusammengelegt wurden, sodass sich die Schulwege für viele Kinder und Jugendliche verlängert haben.

Anger: Solche Dinge nehmen Schüler und Eltern eben auch Tag für Tag wahr, anders als die guten Ergebnisse von Untersuchungen wie der unsrigen, die einmal im Jahr herauskommt.

Christina Anger ist Leiterin der Forschungsgruppe Mikrodaten und Methodenentwicklung im IW, Axel Plünnecke ist Leiter des Clusters Bildung, Innovation, Migration im IW: Foto: IW Medien

Misst denn der INSM-Bildungsmonitor auch den Unterrichtsausfall?

Plünnecke: Nein, dazu gibt es leider keine vergleichbaren Daten. Die Bundesländer sind, vermute ich, auch nicht sonderlich interessiert daran, das transparent zu messen und sich für die Unterrichtsausfälle verantworten zu müssen.

Die Ergebnisse der jüngsten Landtagswahlen in Ostdeutschland zeigen, dass junge Menschen besonders anfällig sind für rechtspopulistische und -extreme Stimmungsmache. Wie sollte die Bildungspolitik darauf reagieren?

Plünnecke: Das Thema Medienkompetenz – also: Wie erkenne ich Fake News? Was sind seriöse Quellen? – sollte eine größere Rolle im Unterricht spielen. Populistische Parteien sind ja sehr aktiv auf TikTok und junge Menschen informieren sich sehr stark über soziale Medien, wo eine Qualitätskontrolle der Inhalte nur sehr bedingt stattfindet.

Mehr Demokratiebildung im Unterricht erforderlich

Anger: Genau zu dieser Frage der Demokratiebildung an Schulen hat die Ständige Wissenschaftliche Kommission der Kultusministerkonferenz kürzlich ein Gutachten herausgebracht. Dort wird Folgendes gefordert: Schüler sollen nicht nur Fakten und Wissen büffeln, sondern auch lernen, wie man die Vielfalt an Informationen überprüft und Quellen einschätzt. Und das Paper fordert fächerübergreifend mehr Demokratiebildung.

Wie soll das im Unterricht umgesetzt werden?

Anger: Oftmals reicht schon eine Veränderung der Schwerpunkte. Die Medienkompetenz zum Beispiel kann man in den bestehenden Fächern vermitteln und anwenden, die Schüler arbeiten ja ohnehin schon sehr viel digital. Da kann man die Schüler nach bestimmten Aussagen suchen lassen und zum Gegenchecken der Quellen auffordern.

Sie erstellen den Bildungsmonitor seit 2004. In der ersten Dekade verbesserten sich die Bildungschancen und -bedingungen, seit 2013 hat sich der Bundesdurchschnitt verschlechtert. Wie kommt das?

Plünnecke: Wir hatten im Jahr 2001 den PISA-Schock, der viele Reformen nach sich zog: mehr Ganztagsschulen, die Einführung von Mindest- und Bildungsstandards, der Ausbau der frühkindlichen Förderung. All das hat stark geholfen, das Bildungssystem in Deutschland zu verbessern.

Corona hat die Ungleichheit unter den Schülern vergrößert

2015 kamen dann mit der Fluchtmigration viele Kinder und Jugendliche ohne Deutschkenntnisse in die Schulen, worauf das Bildungssystem nicht gut vorbereitet war. Und dann kam Corona mit den Schulschließungen, die natürlich jene Kinder stärker trafen, deren Eltern nicht die deutsche Sprache beherrschen oder die nicht durch die Eltern beim Selbstlernen unterstützt werden konnten. Und dadurch ist die Ungleichheit unter den Schülern in den vergangenen drei, vier Jahren noch einmal deutlich gestiegen.

Sie haben den Fokus in diesem Bildungsmonitor auf die Integration gelegt. Seit der ersten PISA-Studie weiß man, dass die Herkunft von Kindern in Deutschland eine unverhältnismäßig große Rolle dabei spielt, ob ein Kind schulisch und beruflich Erfolg haben wird. Warum gelingt es uns so schlecht, diese Herkunftshürde zu überwinden?

Anger: In Deutschland kommen mehrere Risikolagen stärker als in anderen Ländern zusammen: Kinder aus bildungsfernen Haushalten sprechen häufig zu Hause nicht die deutsche Sprache, bekommen von klein auf weniger vorgelesen und gehen auf Schulen, bei denen viele andere Kinder auch schlecht Deutsch können. In Deutschland muss diesem Personenkreis also noch mehr geholfen werden.

Außerdem sehen wir in Deutschland eine niedrigere Beteiligung an der besonders wichtigen frühkindlichen Förderung: Der Anteil der Kinder mit Migrationshintergrund, die eine Kita besuchen, ist in den vergangenen Jahren zurückgegangen. Das ist nicht nur auf sprachliche oder organisatorische Probleme der Eltern zurückzuführen, sondern hat auch damit zu tun, dass wir immer noch zu wenige Kitaplätze haben.

Was wir aber zeigen können, ist, dass nicht der Migrationshintergrund an sich das Problem ist, sondern es sind die fehlenden Kenntnisse der deutschen Sprache. Wer Deutsch beherrscht, kann dem Unterricht folgen und auch leichter in den Arbeitsmarkt einsteigen. Es muss also viel mehr für den Spracherwerb getan werden.

Das Sprachproblem haben Kinder mit Migrationshintergrund in anderen EU-Staaten doch auch?

Plünnecke: In einigen Ländern gibt es bessere Unterstützung – zum Beispiel hochwertige Ganztagsschulen. In manchen Ländern werden die Schüler mit Förderbedarf gleichmäßiger verteilt. Und einige andere Sprachen sind auch leichter zu erlernen als Deutsch.

Gibt es auch Ergebnisse aus dem aktuellen Monitor, mit denen Sie zufrieden sind?

Anger: Die Internationalisierung im Bildungssystem kommt weiter voran. Der Englischunterricht etwa ist besser geworden und die Schüler können auch besser Englisch als früher.

Viele Probleme lassen sich mit Geld lösen: mehr Lehrer einstellen, mehr Förderkurse anbieten, mehr Kindergärten bauen. Wie hoch sind die Mehrkosten, wenn man all das umsetzt, was Sie fordern?

Plünnecke: Wenn man beispielsweise das Startchancenprogramm, das zusätzliche Mittel von 2 Milliarden Euro pro Jahr für 10 Prozent der Schulen mit einem ungünstigen Sozialindex vorsieht, auf 40 Prozent der Schulen ausdehnt, erreicht man einen Großteil der Gruppen, die einen besonderen Förderbedarf haben. Das wären also 8 Milliarden Euro anstatt 2 Milliarden Euro pro Jahr.

Dieser zusätzliche Aufwand würde sich langfristig rechnen, oder?

Plünnecke: Das ist langfristig fiskalisch hochattraktiv, ja, denn damit erhöht man die Zahl der ausbildungsreifen Schulabsolventen. Und angesichts der demografischen Entwicklung in Deutschland können wir jede Fachkraft sehr gut gebrauchen.

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