Landtagswahlen Lesezeit 4 Min.

Viele Ostdeutsche fühlen sich abgehängt

Ungeachtet der guten wirtschaftlichen Entwicklung, die in den vergangenen zehn Jahren in den ostdeutschen Bundesländern stattfand, schätzen viele Einwohner die regionale Entwicklung deutlich schlechter ein, als sie war. Insbesondere AfD-Anhänger unterschätzen die Fortschritte.

Kernaussagen in Kürze:
  • In 74 der 76 ostdeutschen Kreise ist die Arbeitslosenquote, die 2013 im Vergleich zur bundesweiten höher war, bis 2023 überdurchschnittlich zurückgegangen. Auch die Bruttoarbeitsentgelte entwickelten sich im Osten in den vergangenen zehn Jahren im Vergleich zum Westen überdurchschnittlich.
  • Gleichwohl nehmen viele Menschen in Ostdeutschland den wirtschaftlichen Aufschwung in ihrer Region nicht wahr.
  • Besonders hoch ist der Anteil der Pessimisten in ländlichen Gebieten und unter AfD-Anhängern.
Zur detaillierten Fassung

Es ist erst wenige Wochen her, als die AfD mit rund 30 Prozent bei der Europawahl zur stärksten Kraft in Ostdeutschland wurde – und das trotz veritablem Politskandal um ihren EU-Spitzenkandidaten Maximilian Krah, der wegen Spionage- und Korruptionsvorwürfen von der eigenen Partei aus der EU-Delegation hinausgeworfen wurde. Auch das Bündnis Sahra Wagenknecht (BSW) schaffte es aus dem Stand, bei der Europawahl gut 14 Prozent der Stimmen in Ostdeutschland zu holen.

Die subjektive Wahrnehmung des anhaltenden Abgehängtseins vieler Ostdeutscher entspricht zumindest in wirtschaftlichen Belangen nicht der Realität. Hier offenbart sich vielmehr ein flächendeckender Aufholprozess.

Warum sind die extremen politischen Ränder im Osten so erfolgreich? So erfolgreich, dass Mehrheitsregierungen ohne Beteiligung dieser beiden Parteien in Sachsen, Thüringen und Brandenburg, wo im September Landtagswahlen stattfinden, wahrscheinlich gar nicht zustande kommen?

Womöglich deshalb, weil ihre politischen Narrative die Gefühlslage vieler Ostdeutscher, gegenüber dem Westen vermeintlich weiterhin an zweiter Stelle zu rangieren, so gut spiegeln. Diese subjektive Wahrnehmung des anhaltenden Abgehängtseins entspricht zumindest in wirtschaftlichen Belangen nicht der Realität, wie eine aktuelle IW-Studie zeigt. Hier offenbart sich vielmehr ein flächendeckender Aufholprozess:

• Die Arbeitslosenquote betrug im Median im Jahr 2013 in den ostdeutschen Bundesländern 9,5 Prozent, im Jahr 2023 lag sie bei 7,8 Prozent. Betrachtet man die Beschäftigungsentwicklung über alle 400 Kreise bundesweit, zählen innerhalb dieses Zeitraums von den 76 ostdeutschen Kreisen 74 zu den Aufsteigern: In ihnen ist die Arbeitslosenquote, die 2013 im Vergleich zur bundesweiten höher war, bis 2023 überdurchschnittlich zurückgegangen.

• Auch die Bruttoarbeitsentgelte entwickelten sich überdurchschnittlich: Der monatliche Medianlohn lag 2014 bundesweit bei 3.020 Euro. Im Westen betrug er 3.082 Euro, im Osten 2.288 Euro. Bis zum Jahr 2022 stieg das monatliche Medianeinkommen im Westen um 585 Euro, im Osten um 735 Euro – wobei es sich auch hierbei um einen flächendeckenden Aufholprozess handelte, da von den ostdeutschen Kreisen nur ein einziger – nämlich Suhl – keine nennenswerte Einkommenssteigerung verzeichnete.

Starker Rückgang der Arbeitslosigkeit

Diesen objektiven wirtschaftlichen Entwicklungen haben die IW-Forscher nun die subjektiven Wahrnehmungen innerhalb der Bevölkerung gegenübergestellt. Als zentrale Bezugsgröße dafür wählten sie die regionale Entwicklung auf dem Arbeitsmarkt, weil der Rückgang der Arbeitslosenquoten in den vergangenen zehn Jahren im Osten besonders stark ausgefallen ist. Bundesweit stellen demnach die Realisten den größten Anteil: Bei knapp 50 Prozent der Bevölkerung stimmen die Realität und die subjektive Wahrnehmung der regionalen Arbeitsmarktentwicklung überein. Betrachtet man die west- und ostdeutsche Bevölkerung separat, zeigen sich die Menschen im Osten allerdings deutlich pessimistischer (Grafik ):

69 Prozent der ostdeutschen Einwohner schätzen die regionale Entwicklung in den vergangenen zehn Jahren am Wohnort schlechter ein, als es der Arbeitsmarkt zeigt.

So viel Prozent der Bevölkerung schätzen die wirtschaftliche Entwicklung während der vergangenen zehn Jahre in der Region, in der sie leben, subjektiv so ein Download: Grafik (JPG) herunterladen Grafik (EPS) herunterladen Tabelle (XLSX) herunterladen

Besonders groß ist der Anteil der „Unterschätzer“ im ländlichen Ostdeutschland: Dort beträgt er 83 Prozent, während er in den ostdeutschen Städten bei 59 Prozent liegt.

Und wie unterscheiden sich diesbezüglich die jeweiligen Parteianhänger (Grafik)?

Besonders groß ist der Pessimismus mit 79 Prozent in der ostdeutschen AfD-Anhängerschaft, gefolgt von BSW-Sympathisanten, von denen drei Viertel die Entwicklung der regionalen Wirtschaft unterschätzen.

So viel Prozent der jeweiligen Parteianhänger in Ostdeutschland schätzen die wirtschaftliche Entwicklung während der vergangenen zehn Jahre in der Region, in der sie leben, subjektiv so ein Download: Grafik (JPG) herunterladen Grafik (EPS) herunterladen Tabelle (XLSX) herunterladen

Bei den westdeutschen Wählern zeigt sich unter den Pessimisten dieselbe Reihung wie im Osten, allerdings auf niedrigerem Niveau: Unter den AfD-Anhängern gibt es 36 Prozent Pessimisten, die wenigsten Unterschätzer verzeichnen Grünen-Sympathisanten (24 Prozent) und FDP-Anhänger (21 Prozent).

Ein möglicher Grund für den wirtschaftlichen Pessimismus in vielen ostdeutschen Regionen findet sich in der häufig schwierigen demografischen Situation. Zwischen 2012 und 2022 wuchs die Bevölkerung in Deutschland um 3,8 Prozent. In Westdeutschland stieg die Zahl der Einwohner um 4,5 Prozent, in Ostdeutschland schrumpfte sie hingegen um 2,2 Prozent. Vor allem die ostdeutschen Landkreise verloren Einwohner. Größere Städte wie Leipzig (plus 18,1 Prozent), Potsdam (plus 16,3 Prozent) und Berlin (plus 10,9 Prozent) legten demgegenüber deutlich zu.

In schrumpfenden Regionen leben besonders viele Pessimisten

Dass in bevölkerungstechnisch schrumpfenden Regionen der Anteil der Pessimisten höher ist als in wachsenden, zeigt sich sowohl in West- als auch in Ostdeutschland. Die demografische Situation – geprägt durch Einwohnerrückgänge, Überalterung und Leerstand – färbt schon heute auf die Wahrnehmung der sozio-ökonomischen Lage vor Ort ab. In Anbetracht der erwarteten weiteren Alterung und Schrumpfung wird sich diese Situation gerade im ländlichen Ostdeutschland noch empfindlich zuspitzen. Um einer Abwärtsspirale entgegenzuwirken, braucht es in solchen Regionen angemessene Bildungsangebote, einen gut ausgebauten öffentlichen Nahverkehr und schnelles Internet. Dies gilt im Übrigen genauso für westdeutsche Regionen mit Bevölkerungsschwund.

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